Mächtige Pressen und Walzen stehen in den Hallen des Instituts für Metallformung im sächsischen Freiberg. Auf dem Hallenboden sind die Wege markiert, auf denen sich Personal und Besucher sicher zwischen den Ungetümen bewegen können. Keinesfalls dürfe man ohne Erlaubnis die Pfade verlassen, schärft der Leiter des Instituts allen ein. An einem Dezembermorgen geht die Physikerin Heidemarie Krüger vorbei an einer der Walzstraßen mit Kühlstrecke, passiert ein Walzgerüst aus dem Jahr 1929, ein metallisches Monster, das eine Kraft erzeugen kann wie das Gewicht eines Jumbojets. Krüger trägt eine blaue Box bei sich, groß wie eine Butterbrotdose. Darin liegt eine Leiterplatte mit einem fingernagelkleinen Computerchip. Zwischen den mächtigen Maschinen wirkt der Chip, als käme er aus der Zukunft.
Zwei Arbeiter bereiten eines der Walzgerüste für einen Versuch vor. In Stahlwerken, hat Krüger vorher erklärt, komme dem Gehör der Arbeiter eine wichtige Rolle zu. »Wenn eine Walze verschlissen ist und ausgetauscht werden muss, können erfahrene Bediener das nicht messen«, sagte sie, »sondern sie hören es.« Den optimalen Moment für den Walzenwechsel zu finden, sei wichtig: »Laufen sie zu lange, leidet die Qualität.«
Krüger möchte mit ihrem Chip gegen das Gehör der Arbeiter antreten. Sie glaubt, dass er den Verschleiß der Walze genauso gut bestimmen kann, vielleicht sogar besser. Vier Sensoren stecken in der Walzmaschine. Sie schicken Messdaten in einen Kontrollraum, wo Krügers Bauteil sie auswertet. Anders als herkömmliche Chips verarbeitet ihrer die Daten nach einem neuartigen Prinzip. Er funktioniert ähnlich wie ein menschliches Gehirn. Heidemarie Krüger nennt ihn »neuromorph«.
Jahrzehntelang wurden herkömmliche Computerchips in einem atemberaubenden Tempo leistungsfähiger. Bereits in den Siebzigerjahren prognostizierte der US-amerikanische Ingenieur Gordon Moore, dass sich die Zahl bestimmter elektronischer Bauteile auf den Chips, der Transistoren, alle zwei Jahre verdoppeln würde. Die Vorhersage bewahrheitete sich. Füllte ein Großrechner in den Siebzigerjahren noch einen ganzen Raum, erbringt die gleiche Rechenleistung heute ein Smartphone. Chips sind inzwischen überall, in Laptops und Autos, Kühlschränken und elektrischen Zahnbürsten.
Das sogenannte mooresche Gesetz gerät allerdings zunehmend an eine Grenze. Beliebig klein können Transistoren nicht werden, dem stehen fundamentale Gesetze der Physik entgegen. Zudem müssen herkömmliche Chips ständig Daten mit dem Speicher austauschen. Die Auslesegeschwindigkeit der Speicher wächst jedoch nicht schnell genug mit, das hemmt den Transfer.
Außerdem steigt der Energieverbrauch, je mehr Transistoren ein Chip vereint. Nach einer Prognose könnten Rechenzentren allein im Jahr 2030 weltweit jährlich Hunderte Terawattstunden zusätzlichen Strom benötigen, mehr als das gesamte Land Polen derzeit verbraucht. Erst kürzlich kündigten die Unternehmen Amazon, Google und Microsoft unabhängig voneinander an, für ihre stromhungrigen Serverfarmen verstärkt auf Atomstrom setzen zu wollen.
Physikerinnen und Physiker arbeiten deshalb an einer grundlegend neuen Art von Computerchips. So wie sich Ingenieure beim Design von Schnellzügen an der Schnabelform von Vögeln orientierten oder Gelenke von Robotern nach dem Vorbild des Menschen modellieren, lassen sich auch Chipentwickler von der Natur inspirieren: vom Gehirn. In Millionen Jahren hat die Evolution es auf eine erstaunliche Leistungsfähigkeit getrimmt.
Weil das Gehirn Informationen am selben Ort verarbeitet und speichert, entfällt der energieaufwendige Datentransfer. Mit ungefähr 25 Watt Leistung verbraucht es nicht mehr Energie als eine elektrische Saftpresse. Und doch erledigt es viele Aufgaben besser als moderne Supercomputer. Geht der Plan für den hirnähnlichen Chip auf, könnte nicht nur der Strombedarf der Rechenzentren dramatisch sinken. Auch die künstliche Intelligenz könnte einen gewaltigen Entwicklungssprung machen.
Die Revolution des Computers treibt Heidemarie Krüger im Norden von Dresden voran. In der Nähe des Flughafens hat ihr Start-up Techifab einige Büroräume. Im Hauptberuf arbeitet sie als Professorin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet eine Abteilung am Leibniz-Institut für Photonische Technologien in Jena, fünf Stunden in der Woche darf sie für ihre Firma abzweigen.
Mit großen Worten wirft sie nicht um sich, dafür kann sie leidenschaftlich und ausführlich davon erzählen, wie sich Ionen in Kristallfeldpotenzialen bewegen. Ihren Mitgründer und heutigen Ehemann Stephan Krüger unterbricht sie manchmal mit Sätzen wie: »Diese Formulierung würde ich ganz vorsichtig verwenden.« Fragt man sie, wie sie Professorin wurde, antwortet sie ohne Zögern mit einem Wort: »Leistung.«
Stephan und Heidemarie Krüger, damals noch Schmidt, lernten sich im Jahr 2016 am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf kennen. Sie arbeitete dort damals als Wissenschaftlerin, er fahndete als Patentverwerter nach Ideen, die zu verheißungsvollen Start-up-Unternehmen führen könnten. »Heidemarie hatte mit Abstand die meisten Erfindungen gemeldet«, erinnert er sich.
Eine Erfindung fand Stephan Krüger besonders interessant: für ein Material, aus dem eine Art künstliche Synapse entstehen könnte, also ein Nervenzellenkontakt. Heidemarie und Stephan Krüger überzeugten die Bundesagentur für Sprunginnovationen, eine Förderanstalt für disruptive Technologien, von der Idee. In mehreren Schritten bekam das Gründerpaar einen zweistelligen Millionenbetrag, um aus den künstlichen Synapsen einen funktionierenden Chip zu entwickeln. »Uns war klar, wir hatten da etwas ganz Besonderes«, sagt Stephan Krüger.
Wenn das Hirn Informationen verarbeitet und abspeichert, wenn es lernt und wieder vergisst, ist seine sogenannte Plastizität entscheidend. Beständig bilden die Nervenzellen untereinander neue Verknüpfungen, manche werden ausgebaut, andere bilden sich zurück. Übertragen werden Signale zwischen Nervenzellen von Synapsen. Je öfter eine Synapse aktiv ist, desto mehr verstärkt sie zum Beispiel die Signale, so wie ein viel benutzter Trampelpfad breiter wird. An einfachen Organismen wie Meeresschnecken konnten Forscher beobachten, wie sich bestimmte Synapsen durch einen wiederholten Reiz verändern.
Schon in den Siebzigerjahren ersann ein US-amerikanischer Ingenieur in einem Fachartikel ein elektronisches Bauelement, das eine Synapse imitieren könnte. Er nannte es »Memristor«, ein Kunstwort aus »memory« (Speicher) und »resistor« (elektrischer Widerstand). So wie eine Synapse sich an den Datenstrom anpasst, überträgt ein Memristor mehr oder weniger Strom, je nachdem, wie viel Ladung zuvor durch ihn geflossen ist – ein Widerstand mit Erinnerung. Lange existierte das Bauteil nur auf Papier. Erst rund 40 Jahre später stießen Materialforscher auf Stoffverbindungen, die sich wie Memristoren verhielten. Ein Wettlauf um das beste Memristor-Material begann. Auch Heidemarie Krüger stieg mit ein.
Sie erinnert sich gut an jenen Tag im Februar 2011, als sie mit ihrem Team die entscheidende Entdeckung machte. Von ihrem Büro im Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf waren es nur wenige Schritte bis zum Labor. Jeden Morgen schaute sie bei ihren Doktoranden vorbei, um die nächsten Experimente zu planen. Einer ihrer Doktoranden tüftelte an neuartigen Speichermaterialien aus Eisen, Bismut und Sauerstoff. Am Messrechner habe er ihr an jenem Tag seine jüngste Messkurve gezeigt, erzählt Heidemarie Krüger. Sie stutzte.
Er wisse nicht genau, was geschehen sei, habe der Doktorand ihr irritiert erzählt. Offenbar sei ihm bei der Herstellung der Probe ein Fehler unterlaufen. Die Messkurve, erinnert sich Heidemarie Krüger, habe anders ausgesehen als der Rest. Sie verlief wie eine gestauchte Geschenkbandschleife durch das Koordinatensystem. Krüger kannte die theoretischen Vorhersagen zum Memristor und wusste sofort, was die Schleife bedeutete: Der Doktorand hatte eine Stoffkombination gefunden, die zu einer künstlichen Synapse taugen könnte. »Genial«, habe sie zu ihrem Mitarbeiter gesagt. »Wie hast du das gemacht?«
Derzeit besteht Heidemarie Krügers Chip aus bis zu 32 Memristoren. Mehrere Jahre, erzählt sie, habe es nach dem Zufallsfund gedauert, bis sie und ihre Forschungsgruppe den Herstellungsprozess optimiert und verstanden hätten, wie genau das Bauteil funktioniert. Schritt für Schritt konnten sie es verkleinern, sodass immer mehr Memristoren auf eine Siliziumscheibe passten.
Noch ist das Einsatzfeld des neuromorphen Chips überschaubar. Krüger möchte ihn erst mal für die vorausschauende Wartung einsetzen, etwa von Brücken oder Maschinen. Deshalb arbeitet sie mit der Technischen Universität Bergakademie Freiberg zusammen und führt Versuche mit einer Walze durch. Von den vier Sensoren in der Walze verlaufen Kabel in den Kontrollraum der Halle. An diese Kabel schließt ein Mitarbeiter die Leiterplatte mit dem Chip an.
Das elektronische Bauteil koppelt die Sensorsignale nach einer komplizierten Rechenvorschrift miteinander, ähnlich wie das Gehirn etwa die Signale von Ohr, Nase und Augen zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Sobald das Rechenergebnis außerhalb eines festgelegten Bereichs liegt, soll der Chip in Zukunft einen Alarm auslösen: Dann müssen die Walzenkörper gewechselt werden.
Zwar könnte man die Sensorsignale mit der passenden Software auch auf herkömmlichen Chips auswerten. Der hirnähnliche Chip aber verarbeitet die Daten in Echtzeit. Er muss auch nicht, wie bisher gängige Modelle der künstlichen Intelligenz, ständig mit einer Cloud verbunden sein. Seine Stärke könnte er künftig dort ausspielen, wo es auf Sekundenbruchteile ankommt: bei der präzisen Steuerung von Robotern oder in selbstfahrenden Autos, die entscheiden müssen, ob vor ihnen eine Tüte über die Straße fliegt oder ein Kind läuft. Dort, wo das Gehirn weiterhin einen Vorteil vor der künstlichen Intelligenz hat.
Man kann das Rennen um den ersten neuromorphen Computer vergleichen mit einem Wettlauf, der als »Formatkrieg« in die Technikgeschichte einging. Als sich in den Siebzigerjahren immer mehr Menschen einen Videokassettenrekorder leisten konnten, entwickelten Firmen in kurzer Zeit drei unterschiedliche, untereinander nicht kompatible Systeme. Nur eines setzte sich schließlich weltweit durch: VHS. Auch beim neuromorphen Chip verfolgen Forscher verschiedene Ansätze. Manche verwenden andere Materialien, etwa oxidiertes Hafnium. Andere rüsten Transistoren so auf, dass sie sich ebenfalls Zustände merken können. Jedes System hat Vorteile, und noch kann niemand sagen, welches sich durchsetzen wird.
Heidemarie Krüger stellt heraus, dass sich ihre Memristoren nicht nur bestimmte feste Werte merken könnten, sondern jeden beliebigen. »Das kommt den Synapsen am nächsten«, sagt sie. Hermann Kohlstedt, Professor für Nanoelektronik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, macht dagegen einen Vorsprung für andere Konzepte aus. Hafnium beispielsweise werde in der Chipindustrie bereits eingesetzt. »Das ist gut kompatibel mit der Siliziumwelt«, sagt er.
Weitgehend einig sind sich Forscher, dass sie das Gehirn für einen neuromorphen Computer nicht nur auf der kleinsten Ebene nachbilden müssen, seine Nervenzellen und Synapsen. Sie müssen sich auch das Netzwerk als Ganzes zum Vorbild nehmen. Die Leistungsfähigkeit des Hirns, sagt Kohlstedt, entstehe durch seine einzigartige Verschaltung.
Fortschritte gibt es auch hier. Kürzlich gelang es Wissenschaftlern der Technischen Universität Ilmenau in einem Verbundprojekt, auf einem Chip die Hörschnecke zu simulieren, die sogenannte Cochlea im Innenohr, die Schall wahrnimmt. Dafür verbanden sie Sensoren und andere elektronische Bauelemente wie etwa Transistoren so geschickt miteinander, dass sie Signale ähnlich verarbeiteten wie das Original. Die simulierte Hörschnecke sei besser als Spracherkennungssoftware darin, Wörter zu verstärken und lästiges Rauschen zu unterdrücken, sagt Kohlstedt. »Da sind wir nah dran an dem, was das Gehirn beim Hören selbst macht.«
Wenn die Hirnchips immer besser werden, fangen sie irgendwann an zu denken? Gar ein Bewusstsein zu entwickeln? Fachleute glauben nicht daran. Weder gelingt es bisher, genügend künstliche Synapsen auf einem Chip zu vereinen, noch weiß man, wie man sie klug verdrahtet. Heidemarie Krüger sagt, seit sie an ihrem Chip arbeite, schätze sie das Original auf eine andere Weise wert. »Ob eine Hardware je wissbegierig wird, ob sie je Innovationen hervorbringt? Ich weiß es nicht.«
Nicht weit entfernt von seinen Büroräumen in Dresden führt Stephan Krüger in die erste Etage eines Laborgebäudes. An der Tür verrät kein Schild, woran dahinter gearbeitet wird. Auf dem Boden stehen schwere Kisten mit Maschinen, noch nicht ausgepackt. Nebenan, sagt Krüger, wollen sie eine Reinraumkabine aufstellen. In ihrem Innern wird die Luft weitgehend frei von störenden Partikeln sein.
Bald schon möchten Heidemarie und Stephan Krüger in den Räumen einen hirnähnlichen Chip der nächsten Generation in Serie produzieren. Er soll nicht mehr 32 Memristoren haben, sondern 200. Das ist viel, wenn man weiß, mit welcher nanometergenauen Präzision die Chips hergestellt werden müssen. Und doch ist es verschwindend wenig, schaut man sich das Vorbild an.
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